Dramaturgische Weihnachtshelden: Engel ohne Flügel

Einsicht gehört neben den Elementen der Erinnerung, Identifikation und Erkenntnis zu den wichtigsten Eigenschaften in der Dramaturgie von Weihnachtsfilmen. (Eigentlich in allen Filmen, in denen wir deutlich die Zeichen aristotelischer Dramaturgie erkennen, aber anhand von Weihnachtsfilmen lassen sich diese Eigenschaften ganz besonders gut beschreiben.) Genauso wie die Erkenntnis Grundvoraussetzung dafür ist eine dramatische Figur bekehren zu können, so ist die Erinnerung eine wichtige Voraussetzung, damit die Figur Einsicht über ihr Verhalten und ihre Haltung erlangt.

Alle Jahre wieder…

… wird auf irgendeinem Fernsehkanal der Spielfilm It´s a Wonderful Life (DE: Ist das Leben nicht schön?) ausgestrahlt. Und zwar ziemlich genau um Heilig Abend, dann aber fast immer spät nachts. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die späte Sendezeit kein Zufall ist. Frank Capras Film schenkt Hoffnung und lässt uns über unsere persönliche Wertetabelle in unserem Leben nachdenken. Dramaturgisch funktioniert das besonders gut zu später Stunde, noch viel besser, wenn wir alleine sind. Die Story ist simpel und einfach zu analysieren aber die Botschaft ist bedeutsam. George Bailey ist ein erfolgshungriger junger Mann, der große Pläne für sein Leben schmiedet. Aber er ist auch ein sehr großzügiger und hilfsbereiter Mensch, der seine eigenen Interessen ständig hinter die Bedürfnisse anderer reiht. Deshalb bleibt er in dem Nest hängen in dem er aufwuchs, übernimmt die Bankgeschäfte des Vaters und setzt sich somit der Konfrontation mit dessen größten Widersacher aus. Aber George ist ein Kämpfer, der nicht so leicht aufgibt. Er verliebt sich, heiratet und seine Frau schenkt ihm wundervolle Kinder. Aber er verzichtet auf seine großen Pläne und die Chance einer internationalen Karriere. Er verzichtet darauf die Welt zu sehen, so wie er es immer geplant hatte, um anderen Menschen zu helfen. Und dann plötzlich wird er vom Antagonisten finanziell ruiniert. Georges kleinbürgerliche Welt bricht zusammen, er steht vor dem Abgrund und als letzten Ausweg sieht er nur noch seinen Tod.

Engel ohne Flügel

Der Engel Clarence hält George vom Brückensprung ab und zeigt dem Protagonisten in weiterer Folge, wie die Welt ohne ihn aussehen würde. Der Engel will sich damit seine Flügel verdienen und George ist bereits ein Engel ohne Flügel, ohne dass er sich dessen bewusst ist.

Die Dramaturgie des Filmes baut auf das Erinnerungsvermögen der Hauptfigur. George muss sich an die Wichtigkeit seiner Existenz für seine Umwelt erinnern. Zuerst muss er erkennen, wie eine Welt ohne ihn aussehen würde, damit er sich an sein großes Glück erinnert, von dem er täglich umgeben ist. Er erinnert sich, dass sein kleiner Bruder nicht mehr leben würde, wenn er ihn nicht als Kind gerettet hätte. Er erinnert sich, dass er Freunde hat, deren Persönlichkeit eine völlig andere wäre, wenn er nicht gelebt hätte. Der Engel führt George in eine Welt, in der er für seine Frau nur ein verrückter Vagabund wäre. Das ist der dramaturgische Höhepunkt, die Einsicht und Erkenntnis, dass sein größter Schatz seine Familie ist, die es ohne ihn nicht geben würde. Der Engel erinnert George daran, dass kein Reichtum ein größeres Glück für ihn sein kann als seine Familie und seine Freunde, für die er immer wieder seine Versuche aufgegeben hat, in die Welt hinauszuziehen um erfolgreich zu sein. 

Das Glück liegt oft so nah

Erst durch die Erinnerungen triumphiert die Erkenntnis. Der finanzielle Ruin wird zur  Nebensache, denn die Hauptsache, seine Familie, wird auch in den schlimmsten Situationen zu ihm stehen. Die Auflösung des Filmes besteht in der Hilfe durch Georges Freunde. Menschen, denen der Protagonist immer wieder geholfen hat und die ihm jetzt aus seinen finanziellen Schwierigkeiten helfen wollen. „Nichts was wir in unserem Leben tun ist umsonst“, auch so könnten wir die Botschaft des Filmes interpretieren. Aber für mich gibt es eine treffendere Prämisse, die auch dramaturgisch sehr gut verarbeitet wurde: „Unser Glück liegt oft so nah, man muss manchmal nur sehr gründlich nachdenken, man muss sich erinnern, um es auch zu erkennen.“

Ich bin mir sicher, dass diese Botschaft ein maßgeblicher Grund für den großen Erfolg dieses Filmes ist. Hoffnung schöpfen zu können ist für uns alle ein essentielles Bedürfnis, aber gerade Menschen die sich einsam fühlen, können sehr gut an der Figur des George Bailey Hoffnung schöpfen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein glückliches Weihnachtsfest. Im nächsten Jahr starte ich mit einer Beitragsserie in der Kategorie „Unternehmensmedien und Wirtschaftsdramaturgie“ und ich würde mich wieder sehr darüber freuen, Sie als interessierten Leser begrüßen zu dürfen.