Hollywood als Lebensmodell: Warum Träume keine Schäume sind

In dieser Artikelserie habe ich öfters vom „Zerstreuungskino Hollywoods“ gesprochen, also einem Kino, das sich seit Bestehen konsequent an die aristotelische Dramaturgie orientiert, um seinem Publikum größtmögliches Entertainment zu bieten. Es gibt einige Medienwissenschafter, die das Hollywoodkino deshalb missbilligen. Der Film als zutiefst geisteswissenschaftliche Angelegenheit als reine Unterhaltungsindustrie zu benutzen sei Missbrauch, habe ich in diesem Zusammenhang schon gehört. Ich persönlich kann nichts Verwerfliches an Unterhaltung finden. Joseph Garncarz ist Filmhistoriker und hat mit Maßlose Unterhaltung ein wunderbares Buch über das frühe Kino geschrieben. Darin fand ich eine mehr als treffende Beschreibung zu Sinn und Zweck von Unterhaltung:

„Als Unterhaltung gilt eine menschliche Aktivität, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Vergnügen zu bereiten. Unterhaltung ist dabei nicht zweckfrei, sondern dient der Entspannung, dem Sammeln neuer Energien und der Entlastung von gesellschaftlichen Zwängen.“

In seiner Untersuchung des frühen Kinos konnte Garncarz beweisen, dass Unterhaltung seit jeher elementarer Bestandteil eines Filmes ist und keineswegs die Erfindung Hollywoods. Die Erklärung ist eigentlich relativ einfach. Menschen wollten nach dem harten Arbeitsalltag nicht in das Kino, um schwer verdauliche Kunst zu verinnerlichen, sondern um sich berieseln zu lassen, um sozusagen die Seele baumeln zu lassen und zu träumen.

Die Kunst dramaturgischen Denkens

Wer dramaturgisch denken kann, wird wahrscheinlich sehr schnell ein geübter Architekt von packenden Geschichten. Aber gerade darin liegt die Krux, denn dramaturgisches Denken ist absolut nichts, dass sich wie ein Handwerk von heute auf morgen erlernen lässt. Deshalb vertrete ich die Meinung, dass Unterhaltung und insbesondere Unterhaltungskino absolut keine einfache Sache ist. Erinnern wir uns, dass die Bausteine dieser Dramaturgie uralt sind und wir selbst, das Publikum, bereits erfahrene Dramaturgen sind. Wir wissen, dass der Held ein waghalsiges Manöver im ersten Akt überleben wird, weil ja sonst der Film zu Ende wäre. Wir ahnen, dass die Stille in einem Horrorfilm jeden Augenblick durch einen schrecklichen Moment abrupt enden wird. Wir ahnen immer ziemlich schnell, welcher Typ schlussendlich welches Mädchen in einem Liebesfilm erobern wird. Wir beurteilen heute im Hollywoodkino sehr viel schneller, wie sich die Story entwickeln wird und liegen meistens richtig, weil wir die Dramaturgie begriffen haben. Deshalb ist es heute für Dramaturgen so schwierig, ein aufgeklärtes Publikum zu unterhalten. Ein Publikum, das bereits mit allen Konventionen und Konventionsbrüchen konfrontiert wurde, heute nahezu jede ausgeschlachtete Story kennt und sich immer noch nach der Möglichkeit der Unterhaltung, der Entspannung vom realen Alltag sehnt? – Puh, eine verdammt schwierige Aufgabe!

Warum Hollywood als Lebensmodell überleben wird

Eines hat Hollywood begriffen: Träume sind mehr als Schäume und werden deshalb für immer existentieller Treibstoff in der Bewältigung unserer realen Anforderungen betrachtet. Solange es Kriege gibt, wird es immer den Traum nach Frieden geben. Und mit diesen Wunschvorstellungen werden auch die entstehenden Filme weiterhin im Einklang stehen. Wir erleben in der Ukraine derzeit eine sehr brisante Phase und wir können bereits jetzt damit rechnen, dass es sehr bald einen Film über diese Krise geben wird. Ein Film mit Figuren, die wie reale Menschen aussehen, sich wie reale Personen benehmen und auch so handeln. Und trotzdem werden diese Figuren besser sein als wir selbst. Sie werden auch in den unmöglichsten Situationen besser als wir aussehen und es wird eine klare Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen Gut und Böse, zwischen Protagonist und Antagonist geben. Wir werden uns also weiterhin mit einer Dramaturgie konfrontiert sehen, die uns einerseits so glaubwürdig und vertraut erscheint, in Wahrheit jedoch völlig realitätsfremd ist. Deshalb funktioniert die Dramaturgie dieser Filme auch weiterhin; weil sie uns trotz jeglicher Abkehr von der Realität auch von einer anderen Welt, vielleicht sogar von einer besseren Welt, träumen lässt.

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Garncarz, Joseph (2010): Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896 – 1914. Frankfurt am Main [u.a.]: Stroemfeld.

 

Hollywood als Lebensmodell: Zeitlose Figuren

Wie ich im letzten Beitrag geschrieben habe, entsprechen gelungene Figuren unseren Vorbildern. Figuren verkörpern Eigenschaften, von denen wir träumen. Das gilt auch für „schlechte“ Figuren, Antagonisten oder ganz einfach Schurken, die den Protagonisten das Leben schwer machen. Wenn ihre Handlungen plausibel sind, glauben wir den Figuren, wir empfinden sie als realistisch. Damit sie aber realistisch wirken, muss die Dramaturgie einer Story die notwendigen Konflikte enthalten. Die Figuren müssen ständig mit Problemen konfrontiert werden, damit sie zu Handlungen gezwungen werden. Robert McKee formuliert das sehr schön in seinem Buch: „Wahrer Charakter kann nur durch die Entscheidung, die die Figur in einem Dilemma trifft, ausgedrückt werden. Wie diese Person unter Druck handelt – das ist diese Person; je größer der Druck, desto wahrhaftiger und tiefer entspricht die Entscheidung dem Charakter.“

Auch wenn diese Aussage in ihrer ursprünglichen Form Aristoteles zuzuschreiben ist, habe ich im Medium Film ein seltsames Phänomen festgestellt. Der Film hat bis dato keine einzige menschliche Figur hervorgebracht, die sich nachhaltig über mehrere Jahrzehnte in das kollektive Gedächtnis eines Weltpublikums einprägen konnte. Ich spreche jetzt nicht von Figuren wie Flipper und anderen animalischen Berühmtheiten, weshalb ich nochmals etwas präziser wiederhole: „Es gibt KEINE menschliche Figur, die der FILM hervorgebracht hat.“ Sollte ich mich in diesem Punkt irren, bitte ich um Aufklärung und Informationen. Ich habe lange über viele bekannte Filmfiguren nachgedacht, die anhand von einfachen Symbolen auch heute noch sofort identifizierbar sein könnten. Die Erkenntnis war immer dieselbe. Alle diese Figuren waren keine Schöpfungen des Films, sondern der Literatur.

Die Literatur als Schöpfer zeitloser Figuren

Es stimmt schon, dass sehr viele Figuren gerade durch das Medium Film ihre Unsterblichkeit erlangt haben, sie stammen aber immer aus der Literatur. James Bond kennen die meisten von uns nur aus den vielen Filmen, die bereits seit Jahrzehnten entstehen. Bond ist aber eine literarische Figur. Auch Sherlock Holmes ist eine Figur die anhand einer Pfeife, eines karierten Mäntelchens und einer Mütze sofort erkennbar wird. Doch auch diese Figur ist eine literarische Figur. Der Film hat sich seit jeher aus der Literatur bedient und besonders erfolgreiche Figuren auf die Leinwand gebracht, selbst jedoch noch keine über einen längeren  Zeitraum überlebensfähige Figur geschaffen. Dafür konnte der Film einer Figur diese Zeitlosigkeit einverleiben, egal von welchem Darsteller diese Figur verkörpert wurde.

Vampir ist Dracula

Das beste Beispiel für eine zeitlose Figur ist Dracula. Mein ehemaliger Prof., Dr. Rainer M. Köppl, hat das in seinem Buch, Der Vampir sind wir, eindrucksvoll untermauert. Jedes Kind, das heute zwei spitze Zähne sieht, (Symbol), erkennt nicht nur einen Vampir, sondern den Vampir Dracula. Dracula ist eine von Bram Stoker geschaffene Figur und entstammt der Literatur. Unsterblich wurde diese Figur aber erst durch die nachfolgenden Medien, hier speziell durch die vielen Filme. So konnte sich diese Figur bis heute zu einem unsterblichen Begriff für Vampire entwickeln. Mit anderen Worten: Wen wir von Vampiren sprechen, denken wir als erstes immer an die Figur von Dracula. (Hier meine ich wortwörtlich Figur.) Ein Typ der sexy aussieht und dabei alle wunderschönen Frauen in seinen magischen Bann zieht, der zwischen dem Diesseits und Jenseits wandelt und sich in Tiere verwandeln kann, um nur ein paar bemerkenswerte Eigenschaften zu nennen. Freilich hat auch die Vampirfigur einige Schwächen, die sie verwundbar macht. Diese Schwächen sind uns allen aber mindestens genauso bekannt wie seine Stärken. Wir alle wissen zum Beispiel, dass Dracula keinen Sonnenbrand verträgt. Meiner Meinung nach gibt es keine andere „schlechte“ Figur, keinen anderen Antagonisten, der den Bekannt- und Beliebtheitsgrad dieser Figur toppen könnte. – Aber es handelt sich trotzdem um eine literarische Figur.

Literarische Figuren profilieren, filmische Figuren konstatieren

Die Literatur als älteres Medium kann also durchaus als Schöpfungsmedium betrachtet werden. Aber der Film bedient sich dieser großartigen Schöpfungen und verleiht ihnen erst die Körper. Das ist ein Umstand, der von vielen Literaten und Literaturliebhabern verurteilt wird, wenn diese sich darüber beklagen, dass der Film nicht fähig ist die Tiefe einer Figur dramaturgisch für die Leinwand zu adaptieren. Das ist ein zu ausführliches Thema für diesen Beitrag, aber der Einwand ist natürlich nicht ganz unberechtigt. Trotzdem muss man festhalten, dass eine dramaturgische Figur, eine auf einer Leinwand handelnde Figur, anders funktioniert als eine literarische Figur. Denn Handlungen auf der Leinwand müssen in begrenzter Zeit gezeigt werden und dabei auch noch glaubwürdig bleiben, während literarische Handlungen beschrieben werden und zudem auch noch viel mehr Raum dafür haben.

Die „reine“ Filmfigur

Ich habe bis dato keine menschliche Filmfigur entdeckt, die auch eine Schöpfung des Filmes ist und seit mindestens dreißig Jahren einem weltweiten Publikum in Erinnerung blieb. Ich vermute, daran wird sich auch die nächsten Jahre nichts ändern. Hollywood scheint heute mehr denn je auf altbewährtes zurückzugreifen. Figuren mit langer Tradition und Schöpfungen aus der Literatur, die so bekannt wie James Bond sind und bei denen es nahezu egal ist, mit welchem Darsteller sie besetzt werden, stellen eben ein viel kleineres Produktionsrisiko dar. Und eigentlich spielt das für ein Mainstreamkino auch keine Rolle: Figuren sollen uns zum Träumen animieren und somit ihre Funktion im Zerstreuungskino Hollywoods erfüllen. 

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

McKee, Robert (2000): Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin: Alexander.

Köppl, Rainer M. (2010): Der Vampir sind wir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight. St. Pölten; Salzburg: Residenz.

 

Hollywood als Lebensmodell: Über Stars und andere falsche Vorbilder

Im letzten Beitrag habe ich erzählt, dass die Figur immer ein Held sein muss und der Star ein Schwächling bleiben darf. Trotzdem beobachte ich ständig, dass Rezipienten es lieben, Stars mit den Figuren die sie verkörpern zu vergleichen. Unlängst erzählte mir ein guter Freund, dass ihm die Figur Charly aus der Serie Two and a half man so gut gefällt, weil er den Star Charly Sheen mit der Figur selbst identifiziert. Mit anderen Worten: Im gefällt, dass der Star Charly genauso versoffen und umtriebig ist, wie die Figur Charly. => Der Star ist die Figur.

Ich teile in diesem Punkt die Meinung des finnischen Meisterregisseurs Aki Kaurismäki. Dieser sagte in einem Interview zur Dokumentation seines Filmes Le Havre: „John Wayne war nachweislich ein Vollidiot, aber als Westernheld war er einsame Klasse.“

Es spielt überhaupt keine Rolle, wenn der Star nicht die Klasse seiner Figuren besitzt. Er muss nur ein genialer Nachahmer sein. Im Gegenteil halte ich es manchmal sogar für gefährlich, wenn Stars auch außerhalb des Drehortes „Täuscher“ bleiben. Ich möchte das anhand eines Beispiels aus der Frühzeit des Kinos erklären.

Der lustige „Fatty“

Roscoe „Fatty“ Arbuckle war ein Star zu Hollywoods goldenen Zeiten. Er war der lustige Star, den die Kinder liebten und der weltweit das Publikum zum Lachen brachte. Und außerdem verdienten die Studios Millionen mit seinen Filmen. Er war einer der hervorragenden Komiker seiner Zeit und er war ein Star. Er war fett, trank übermäßig viel und er war eigentlich auch sehr hässlich. Aber er hatte trotzdem stets wunderschöne Frauen um sich versammelt und Zeitzeugen berichteten vermehrt von Partys, auf denen Fatty mit Frauen in Hinterzimmern verschwand, um diese brutal zu vergewaltigen. Das Starlett Virginia Rappe starb nachweislich an einem Blasenriss. Es wurde Anklage erhoben und nach drei Prozessen wurde Fatty von den Geschworenen freigesprochen. Tatsächlich konnte ihm nichts nachgewiesen werden, da die meisten Partygäste, die als Zeugen aussagten, zum Tatzeitpunkt selbst schwer betrunken waren.

Die Geschworenen vertrauten auf das unbescholtene Bild der Figuren, die Fatty stets verkörperte. Paramount wollte trotzdem nichts mehr von ihm wissen. Zu sehr war das Image eines wegen Vergewaltigung angeklagten Komikers angekratzt, um weiterhin mit diesem Dollars verdienen zu können. Fatty verkraftete sein Karriereende nicht und wurde Opfer seines übermäßigen Alkoholkonsums.

Wir wissen heute natürlich nicht, was damals tatsächlich geschah. Fest steht, dass Fatty wohl kein Unschuldslamm und im wirklichen Leben alles andere als ein Held war.

Warum Stars falsche Vorbilder sind

Die heutigen Stars unterscheiden sich grundsätzlich nicht von den Stars aus dem goldenen Hollywoodzeitalter. Allerdings sind sie heute um sehr viel reicher und die Studiobosse gieren nach den Stars und ihrem Marktwert. Nicht der qualitative Wert eines Schauspielers zählt, sondern sein Popularitätsgrad. Und dieser ist, wie wir alle sehr wohl wissen, für findige PR-Experten heute sehr gut manipulierbar. Ich behaupte, dass heute nur eine Mordverurteilung die Karriere eines Stars für immer beenden kann. (Und nicht einmal da bin ich mir sicher.)

Charly Sheen war ein Filmstar, er baute Mist und wurde nach einiger Zeit zu einem Serienstar. Er baute wieder ständig Mist und wurde nach antisemitischen Beleidigungen aus Two and a half man rausgeschmissen.

Ich glaube, dass die Stars von heute nicht nur sehr gierig sind, sondern auch ständig danach trachten, ihr zurechtgelegtes Image aufrecht zu halten. Genauso wie sie nichts mit den Figuren gemein haben, hat auch dieses Image nichts mit der wahren Persönlichkeit eines Stars zu tun. Deshalb sollten wir uns hüten, falschen Vorbildern nachzueifern, die meistens keine Vorbilder sind, sondern lediglich konstruierte Inszenierungen von Persönlichkeiten darstellen.

Figuren als Vorbilder

Die Figuren sind die wahren Vorbilder und das aus ganz einfachem Grund. Sie verkörpern Wesenszüge, von denen wir träumen. Sie zeigen uns Dinge, die wir selbst nicht können. Aber erst wenn Figuren glaubwürdig handeln, schenken sie uns Hoffnung, um dieselben faszinierenden Dinge tun zu können. Darin liegt die Kraft von dramaturgischen (handelnden) Figuren. Die Stars sind nur die Hüllen, die Nachahmer, die sehr viel Geld verdienen und die uns nicht weiter zu interessieren brauchen. Egal ob der Star ein edler Mensch oder einfach nur ein Schwachkopf ist, die Figur muss immer erhaben sein. Das gilt für Helden und Schurken gleichermaßen. Und den Figuren schenke ich in meinem nächsten Beitrag dieser Serie meine Aufmerksamkeit.

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Camonte, Tony S. (1987): 100 Jahre Hollywood. Von der Wüstenfarm zur Traumfabrik. München: Heyne.