Dramaturgische Weihnachtshelden: Das „Bekehrungsmodell“ nach Charles Dickens

A Christmas Carol, von Charles Dickens, ist wahrscheinlich die berühmteste Weihnachtsgeschichte überhaupt. Erzählt wird die Geschichte des hartherzigen Geschäftsmannes Ebenezer Scrooge, der erst durch die Erscheinung von drei Weihnachtsgeistern zu einem großzügigen und anerkannten Mann seiner Stadt wird. Keine besonders aufregende Story, um auch dramaturgisch mit einem Stück Weltliteratur erfolgreich arbeiten zu können möchte man annehmen, aber Dickens Weihnachtsgeschichte wird auch zukünftig populär in unseren Medien verankert bleiben. Egal ob die Figuren aus dem England Mitte des 19. Jahrhunderts stammen,  zeitgenössische Workaholics, animierte Hollywoodstars oder einfach nur Muppets sind. – Die Story ist und bleibt mit dem dramaturgischen „Bekehrungsmodell“ ein Kassenschlager.

Der Trick mit der Bekehrung

Ehrlich gesagt beruht der Erfolg dieser Story nicht auf einem Trick, sondern auf einem uralten Erzählkonzept, das sehr viel älter als unsere Schrift ist. Nachlesbar ist es aber bereits auch in der Poetik von Aristoteles: „So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit derartigen Charakterfehlern behaftete Menschen nachahmt, sie als die, die sie sind, und zugleich als rechtschaffen darstellen.“(Aristoteles, Die Poetik, S.49)

Es gibt also eigentlich keine grundsätzlich schlechten Menschen, sondern nur Fehler, die diesen Menschen widerfahren sind. Wir erwarten deshalb immer eine Korrektur dieses Fehlers, egal ob sich ein alter Geizhals zu einem großzügigen Großstadtbürger entwickelt oder ob sich die selbstverliebte Geschäftsfrau in eine liebende Mutter verwandelt. Diese „Bekehrungen“ wollen wir sehen und deshalb spielt es überhaupt keine Rolle, in welche Hülle derselbe Inhalt immer wieder verpackt wird.

Das Modell und die Inhalte von A Christmas Carol

Der Kern in der Erfolgsdramaturgie von A Christmas Carol findet sich in der Bekehrung des Protagonisten zu einem großzügigen und gütigen Menschen. Alles was die Story benötigt sind drei Weihnachtsgeister, die Scrooge in nur einer Nacht zu einem besseren Menschen bekehren. Der erste Geist führt den Protagonisten in dessen Vergangenheit, um ihm zu zeigen, dass er nicht immer ein hartherziger Geschäftsmann war. Scrooge sieht wie er das Weihnachtsfest einst liebte und wie die Gier ihn allmählich blind für all die schönen Dinge des Lebens machte. So auch für seine erste Liebe, die er wegen seiner wachsenden Profitsucht aufgab. Aus der Perspektive eines Beobachters lösen diese Erkenntnisse zwar erste Überlegungen aus, aber die notwendige Steigerung folgt erst mit dem Erscheinen des zweiten Geistes. Dieser zeigt der Figur wie sehr sie von ihrem Umfeld verachtet und verspottet wird. Ein echter Angriff auf die Ehre und ein heftiges Erschüttern im Selbstbildnis des Protagonisten. Nicht nur das. Die Figur wird zudem mit den Konsequenzen ihrer gnadenlosen Handlungen konfrontiert. Die Haltung der Figur beginnt sich mit der Erkenntnis zu verändern und die Story bleibt dadurch auch dramaturgisch plausibel. Aber in einer klassischen Drei-Akt-Struktur benötigt die Story auch einen dritten Geist, der sämtliche Bekehrungshandlungen abschließt. Der Geist der Zukunft zeigt dem Protagonisten Tod und Leere als letzte Überbleibsel der eigenen Existenz.

Niemand wird sich an die Figur erinnern, keiner wird ihr eine Träne nachtraueren. Das sind die schlimmste Erkenntnisse für Scrooge und der Höhepunkt in der Dramaturgie. In größter Not und Verzweiflung fleht Scrooge um Gnade und um eine letzte Chance, ein besserer Mensch sein zu dürfen. Und er erhält diese Chance. Die Figur hat die Warnungen der Geister verstanden und vor allem die Erkenntnis gewonnen, das eigene Leben nicht länger als hartherziger Geizhals verschwenden zu wollen.

Wie ich eingangs erwähnte, benötigt A Christmas Carol keine aufregenden oder komplizierten Handlungsabläufe. Die Dramaturgie ist einfach und benötigt lediglich den Effekt der Bekehrung, der solange es Menschen und Medien gibt wahrscheinlich immer funktionieren wird. Auch wenn Figuren wie Scrooge beliebig ausgetauscht werden können, unser Verlangen nach erfolgreicher Bekehrung ist stärker als eine einfach gestrickte Drei-Akt-Dramaturgie mit einer längst bekannten Story.

Erinnerungen an die eigene Kindheit können sehr starke Argumente für eine dramaturgisch glaubwürdige Bekehrungsszene sein. Erinnerungen und Erkenntnis sind die zentralen Elemente einer Bekehrungsdramaturgie, so wie sie es in der Dramaturgie vieler anderer Filme auch sind. Erinnerungen werden aber auch oft mit Identifikation gepaart, um die Aufmerksamkeit eines großen Publikums für eine einfache Weihnachtsgeschichte zu erregen.

Wer kann sich nicht an seine eigene Kindheit erinnern und zugleich mit ähnlichen Ereignissen in der Dramaturgie von Weihnachtsfilmen identifizieren. Dazu aber in meinem nächsten Beitrag etwas mehr.

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Aristoteles; Fuhrmann, Manfred (2006): Poetik. Griechisch – deutsch. Stuttgart: Reclam.

 

 

Dramaturgische Weihnachtshelden: Der Weihnachtsmann als Protagonist

Er gehört wahrscheinlich zu den prominentesten Protagonisten in der Mediengeschichte: Der Weihnachtsmann. Aber wer ist diese Figur; eine Schöpfung der Mythen? Eine Erfindung von Coca Cola? Oder gibt es vielleicht doch eine historische Persönlichkeit, die als Vorlage für die Figur des Weihnachtsmannes bis heute nichts an ihrer dramaturgischen Zugkraft verloren hat?

Der Weihnachtsmann als Metropolit

Wir wissen heute leider sehr wenig über den heiligen Nikolaus von Myra. Fest steht, dass es sich um eine sehr beeindruckende Persönlichkeit gehandelt haben muss, die sich durch zahlreiche Legenden und Erzählungen bis weit ins 16. Jahrhundert zu einer mythischen Figur, einem Wundertäter, entwickeln konnte. Verbreitet auf der ganzen Welt ist vor allem sein Auftreten als Wohltäter und Beschützer der Armen und Hilfsbedürftigen. Dadurch ist es auch kaum verwunderlich, dass auf den heiligen Nikolaus bis heute so viele Schutzpatronate zurückzuführen sind. So ist er nicht nur Schutzpatron der Bettler und Armen, sondern auch der Prostituierten, Schifffahrer, Notare und Rechtsanwälte, ja sogar Verbrecher und Gefangenen, um nur einige wenige zu nennen. Seit dem 15. Jahrhundert ist Nikolaus auch als Gabenbringer für die Kinder bekannt. In dieser Funktion ist die Figur besonders in dramaturgischer Hinsicht bis in die Gegenwart sehr bedeutsam geblieben.

Die Dramen um die Figur des heiligen Nikolaus

Verarbeitet und verbreitet wurden die Legenden um den heiligen Nikolaus vor allem durch die geistlichen Spiele, die Mirakelspiele, des Mittelalters. Auch wenn ich in diesem Beitrag nicht näher darauf eingehen kann, an dieser Stelle möchte ich trotzdem das großartige Stück von Jean Bodel, Das Spiel vom Heiligen Nikolaus, erwähnen. In diesem um ca. 1200 entstandenen Mirakelspiel finden wir alle dramaturgischen Elemente, religiöse und weltliche zugleich, die wir bei genauer Untersuchung auch heute noch in sehr vielen Filmen rund um den Weihnachtsmann finden könnten.

Wie der Weihnachtsmann entstand…

…ist deshalb völlig egal. Ich überlasse das der Forschung. Dramaturgisch wichtig ist, dass die Legende um den heiligen Nikolaus wegbereitend für eine Figur war, die so wandlungs- und vielseitig ist, dass sie bis heute auf der ganzen Welt nichts an ihrer Prominenz eingebüßt hat. Die Mitra und das Gewand eines Bischofs wurden zwar ersetzt durch eine rote Zipfelmütze und einen roten Mantel, aber der Rest ist an der Figur haften geblieben. Der Weihnachtsmann ist immer noch ein Wundertäter, ein Gabenbringer, der die Menschen beschenkt, weil er sie liebt. Geblieben ist jedoch auch die Legende, dass er Gerechtigkeit walten lässt und die Menschen auch bestraft. Deshalb kann die Figur auch dramaturgisch in den verschiedensten Funktionen erfolgreich auftreten.

Der Weihnachtsmann in seiner dramaturgischen Funktion

Wir kennen sie alle, die Weihnachtsmannfiguren in ihren Sinn- und Lebenskrisen. Die Geschichten um die Entstehung des Weihnachtsmannes und die kitschig-süßen Weihnachtsgeschichten, mit denen uns Hollywood jährlich neu beliefert. Dramaturgisch funktionieren sie immer, egal wie platt die Geschichten sind. Wichtig ist nur die Figur und ihre Fähigkeit Wunder zu vollbringen. Oder eben ihre Unfähigkeit, Wunder zu vollbringen. Freilich taucht die Figur zwar immer wieder als Gabenbringer für die Kinder auf, aber es bleibt trotzdem das größte Wunder, in einer Nacht alle Kinder der Welt zu beschenken. Und der Traum, dass es tatsächlich einen solchen Wundertäter geben könnte, wird natürlich auch hauptsächlich durch Kinder belebt. Aber die Faszination für Weihnachtsgeschichten mit der Figur eines Weihnachtsmannes hält oft bis ins Erwachsenenleben an.

Auch wenn der Weihnachtsmann in Wirklichkeit ein versoffener Dieb ist, so wie Billy Bob Thornton in Bad Santa, so entwickelt sich auch dieser falsche Weihnachtsmann zu einer Figur, die eine Besserung erfährt und schlussendlich tatsächlich zu einem Gabenbringer wird.

Gerade in all den Filmen mit falschen Weihnachtsmännern, also den Betrügern die als echte Weihnachtsmänner auftreten, kann sich die Figur dramaturgisch zu einem positiven Charakter entwickeln. Die Figur wird zu einem Wohltäter oder einem Beschützer und hat deshalb immer sehr breites Potential. Hollywood benötigt hierzu nur den Rückgriff auf die vielen Legenden und Mirakelspiele um den heiligen Nikolaus.

Das funktioniert natürlich auch umgekehrt, wenn der Weihnachtsmann als bestrafende Figur auftritt. Exemplarisch hierfür verweise ich auf den finnischen Film Rare Exports. Die Dramaturgie dieses Filmes funktioniert, indem der Weihnachtsmann die Kinder nicht beschenkt, sondern bestraft. Als Horrorfilm konzipiert entwickelt sich die Story schlussendlich zu einem Film, in dem das Kind über die Erwachsenenwelt triumphiert und den strafenden Weihnachtsmann besiegt. Egal ob den Filmkritikern dieser Film nun gefällt oder nicht, die dramaturgische Auflösung beinhaltet eine wichtige Prämisse, die nach wie vor Allgemeingültigkeit besitzt: Die Figur Weihnachtsmann ist ein weltweit verbreiteter Exportartikel geblieben.

 

Literaturtipps:

Bodel, Jean: Das Spiel vom heiligen Nikolaus / übers. u. eingel. von Klaus-Henning Schröder. München: Fink, 1975. (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters; 14)

 

Hollywood als Lebensmodell: Warum Träume keine Schäume sind

In dieser Artikelserie habe ich öfters vom „Zerstreuungskino Hollywoods“ gesprochen, also einem Kino, das sich seit Bestehen konsequent an die aristotelische Dramaturgie orientiert, um seinem Publikum größtmögliches Entertainment zu bieten. Es gibt einige Medienwissenschafter, die das Hollywoodkino deshalb missbilligen. Der Film als zutiefst geisteswissenschaftliche Angelegenheit als reine Unterhaltungsindustrie zu benutzen sei Missbrauch, habe ich in diesem Zusammenhang schon gehört. Ich persönlich kann nichts Verwerfliches an Unterhaltung finden. Joseph Garncarz ist Filmhistoriker und hat mit Maßlose Unterhaltung ein wunderbares Buch über das frühe Kino geschrieben. Darin fand ich eine mehr als treffende Beschreibung zu Sinn und Zweck von Unterhaltung:

„Als Unterhaltung gilt eine menschliche Aktivität, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Vergnügen zu bereiten. Unterhaltung ist dabei nicht zweckfrei, sondern dient der Entspannung, dem Sammeln neuer Energien und der Entlastung von gesellschaftlichen Zwängen.“

In seiner Untersuchung des frühen Kinos konnte Garncarz beweisen, dass Unterhaltung seit jeher elementarer Bestandteil eines Filmes ist und keineswegs die Erfindung Hollywoods. Die Erklärung ist eigentlich relativ einfach. Menschen wollten nach dem harten Arbeitsalltag nicht in das Kino, um schwer verdauliche Kunst zu verinnerlichen, sondern um sich berieseln zu lassen, um sozusagen die Seele baumeln zu lassen und zu träumen.

Die Kunst dramaturgischen Denkens

Wer dramaturgisch denken kann, wird wahrscheinlich sehr schnell ein geübter Architekt von packenden Geschichten. Aber gerade darin liegt die Krux, denn dramaturgisches Denken ist absolut nichts, dass sich wie ein Handwerk von heute auf morgen erlernen lässt. Deshalb vertrete ich die Meinung, dass Unterhaltung und insbesondere Unterhaltungskino absolut keine einfache Sache ist. Erinnern wir uns, dass die Bausteine dieser Dramaturgie uralt sind und wir selbst, das Publikum, bereits erfahrene Dramaturgen sind. Wir wissen, dass der Held ein waghalsiges Manöver im ersten Akt überleben wird, weil ja sonst der Film zu Ende wäre. Wir ahnen, dass die Stille in einem Horrorfilm jeden Augenblick durch einen schrecklichen Moment abrupt enden wird. Wir ahnen immer ziemlich schnell, welcher Typ schlussendlich welches Mädchen in einem Liebesfilm erobern wird. Wir beurteilen heute im Hollywoodkino sehr viel schneller, wie sich die Story entwickeln wird und liegen meistens richtig, weil wir die Dramaturgie begriffen haben. Deshalb ist es heute für Dramaturgen so schwierig, ein aufgeklärtes Publikum zu unterhalten. Ein Publikum, das bereits mit allen Konventionen und Konventionsbrüchen konfrontiert wurde, heute nahezu jede ausgeschlachtete Story kennt und sich immer noch nach der Möglichkeit der Unterhaltung, der Entspannung vom realen Alltag sehnt? – Puh, eine verdammt schwierige Aufgabe!

Warum Hollywood als Lebensmodell überleben wird

Eines hat Hollywood begriffen: Träume sind mehr als Schäume und werden deshalb für immer existentieller Treibstoff in der Bewältigung unserer realen Anforderungen betrachtet. Solange es Kriege gibt, wird es immer den Traum nach Frieden geben. Und mit diesen Wunschvorstellungen werden auch die entstehenden Filme weiterhin im Einklang stehen. Wir erleben in der Ukraine derzeit eine sehr brisante Phase und wir können bereits jetzt damit rechnen, dass es sehr bald einen Film über diese Krise geben wird. Ein Film mit Figuren, die wie reale Menschen aussehen, sich wie reale Personen benehmen und auch so handeln. Und trotzdem werden diese Figuren besser sein als wir selbst. Sie werden auch in den unmöglichsten Situationen besser als wir aussehen und es wird eine klare Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen Gut und Böse, zwischen Protagonist und Antagonist geben. Wir werden uns also weiterhin mit einer Dramaturgie konfrontiert sehen, die uns einerseits so glaubwürdig und vertraut erscheint, in Wahrheit jedoch völlig realitätsfremd ist. Deshalb funktioniert die Dramaturgie dieser Filme auch weiterhin; weil sie uns trotz jeglicher Abkehr von der Realität auch von einer anderen Welt, vielleicht sogar von einer besseren Welt, träumen lässt.

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Garncarz, Joseph (2010): Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896 – 1914. Frankfurt am Main [u.a.]: Stroemfeld.