Hollywood als Lebensmodell: Über „Dramaturgiegurus“ und ihre Erfolgsrezepte

Ich glaube es begann bereits in den 70er Jahren. Der Boom mit dem „Dramaturgiegeschäft“. In den USA witterten einige findige Drehbuchautoren die günstige Gelegenheit, Dramaturgie als Rezept zu verkaufen. Konkret: Sie verkauften „Aristoteles“ als IHR Erfolgskonzept, um Drehbuch als Handwerk zu erlernen und zu verstehen. Dumm waren dies Dramaturgen nicht. In meinem letzten Beitrag habe ich beschrieben, dass selbst Aristoteles Dramaturgie als erlernbare Technik erkannte. Drei international bekannte „Dramaturgielehrer“ möchte ich deshalb kurz vorstellen.

Syd Field

Durch seine Bücher erhielt ich Mitte der 90er Jahre erstmals einen tieferen Einblick darüber, wie Drehbuchautoren heute in Hollywood arbeiten (sollten). Field schreibt, dass ein Drehbuch eine in Bildern erzählte Geschichte ist. Die Struktur und den Aufbau einer Story bezeichnet er schlichtweg als Paradigma.Für mich als damaligen Newbie war dieses Modell der ideale Start, um Dramaturgie zu verstehen; aber was uns Field hier tatsächlich zeigt, ist nichts anderes als eine Adaption der Poetik von Aristoteles. Und die ist immerhin über zweitausend Jahre alt. Fields Erfolgsformel für das Erfolgsdrehbuch lautet:

STORY = Figur + dramaturgisches Ziel + Konflikt

Er behauptet, dass es bei allen Geschichten einen eindeutigen Anfang, eine präzise Mitte und ein bestimmtes Ende gibt und dass alle Drehbücher dieser Kausalkette folgen. Praktischerweise schreibt Field dem Drehbuchlehrling die Seitenzahlen vor, die zugleich den Filmminuten entsprechen. Beim sogenannten „Plot Point“ handelt es sich um eine Form des Konflikts, ein Ereignis oder eine Störung, die den Protagonisten aus der Bahn wirft, ihn aus seinem geregelten Lebenslauf reißt und vor ein zu lösendes Problem stellt. Idealerweise tritt dieser Plot Point kurz vor Beginn des zweiten und des dritten Aktes ein. Im zweiten Akt muss die Figur sämtliche Konfrontationen beim Erreichen ihres Zieles überwinden. Kurz vor Beginn des dritten Aktes ereignet sich nochmals ein Plot Point, der den Protagonisten zur Lösung des Problems im dritten Akt führt.

Eine Story entsteht durch mindestens eine Figur, die ein bestimmtes Ziel verfolgt und dabei durch Probleme und Hindernisse gestört wird. Die Überwindung dieser Probleme zwingt die Figur zu Handlungen, die wiederum den Charakter dieser Figur enthüllen.

Irgendwann musste wohl auch Field erkennen, dass eine Story weitaus komplexer sein kann, als sein Paradigma darzustellen vermochte. Deshalb erweiterte er es in einem anderen Buch um den „Midpoint“ im zweiten Akt. Dabei hatte Field überhaupt keine Ahnung, was es mit diesem zentralen Punkt auf sich hatte und er gibt das auch in seiner Publikation offen zu. Die Hintergründe für diese Erweiterung sind aber offensichtlich. Einerseits versuchte Field ein weiteres Element, eine Zwischenstation zu schaffen, um Storys einfacher strukturieren zu können. Er teilt den „Fahrplan“ Richtung Auflösung in zwei Teile. Andererseits suchte er aus Gründen der Legitimation nach Filmen, in denen dieser Midpoint vorhanden war. Gab es ihn nicht, wurde das Ereignis, das ungefähr in der 60. Filmminute eintreten sollte, als solches konstruiert und verteidigt.

Die Gefährlichkeit dieses Unterfangens liegt nun in der Annahme, dass Field damit stereotype Storys provoziert und dies die Produktionslogik Hollywoods massiv beeinflusst. Es handelt sich bei Fields Paradigma zwar um „Aristoteles leicht verständlich“ und ist für Menschen, die sich für Dramaturgie zu interessieren beginnen ein durchaus nützliches Hilfsmittel. Aber es handelt sich hierbei wirklich nur um ein vereinfachtes Modell, dass sicherlich nicht in allen Filmen auffindbar ist.

Trotzdem befindet sich Field mit seinem Drei-Akt-Modell in bester Gesellschaft.

Linda Seger

Auch Linda Seger ist anerkannte Dramaturgielehrerin und veröffentlichte ihr ideales Modell, um Geschichten dramaturgisch zu strukturieren. Die Ähnlichkeit, zu Fields Paradigma, ist unübersehbar. Auch Seger gibt ihren Drehbuchlehrlingen Seitenzahlen für dramaturgische Wendepunkte vor.

Robert McKee

Er gilt ebenfalls als Koryphäe in Sachen Dramaturgie. Mir persönlich gefallen seine Ausführungen am besten. Als erstes stelle ich in seiner Publikation fest, dass er die Adaption der Poetik von Aristoteles nicht als eigene Erfindung verpackt. Zweitens kann ich erkennen, dass McKee mehr in die Tiefe taucht und der Figurenkonstruktion in einer Story die große Wichtigkeit zukommen lässt. Und drittens schreibt er unheimlich gut und erklärt komplexe Zusammenhänge in locker süffisanter und trotzdem gut verständlicher Schreibweise. Aber natürlich trachtet auch er danach, die aristotelische Dramaturgie in Hollywood lebendig zu halten, um auch zukünftig viele Millionen Dollars in die Kinokassen zu spülen.

Wer verursacht den Hollywood-Einheitsbrei?

Die klassische Drei-Akt-Struktur, die wir ständig in Hollywoodfilmen finden, ist deshalb kein Zufall. Es gibt einen erkennbaren Zusammenhang zwischen den Lehren der „Drehbuchgurus“ und der Produktionsweise Hollywoods. Aber wer ist nun wirklich der Verursacher der Storys, die alle nach demselben Muster gestrickt sind? (Und deshalb leider allzu oft vorhersehbar sind.) Produziert Hollywood nach den Regeln eines Syd Field, schreibt Field aufgrund bestehender Produktionsprinzipien oder sind wir selbst und unser Unterhaltungsbedürfnis der Auslöser für die Storys, mit denen uns Hollywood beliefert?

Ich glaube, dass wir einfach nur unsere Erwartungshaltung zurückschrauben müssen, um das „Hollywood-Zerstreuungskino“ genießen zu können. Auch wenn meine Ausführungen eine andere Vermutung zulassen könnten; ich persönlich kann mich heute noch an einem gut konstruierten Blockbuster erfreuen. Die Faszination für „Baumusterfilme“ nach den Lehren Aristoteles (oder seinen heutigen Nacheiferern) wird auch weiterhin leben. Ich werde die Gründe dafür in meinem nächsten Beitrag näher erläutern.

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Field, Syd (1996): “Das Drehbuch” In: Andreas Meyer und Gunther Witte (Hg.): Drehbuchschreiben für Fernsehen und Film. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis 6. Auflage. München [u.a.]: List, S. 11–120.

Field, Syd (2001): Das Handbuch zum Drehbuch. Übungen und Anleitungen zu einem guten Drehbuch 13. Auflage. Frankfurt am Main: Zweitausendeins.

McKee, Robert (2000): Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin: Alexander.

Seger, Linda (1998): Das Geheimnis guter Drehbücher 2. Auflage. 

 

Hollywood als Lebensmodell: „Warum Aristoteles ewig leben wird“

Was ist Dramaturgie?

Das Wort Dramaturgie stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Handlung“. Im Theaterlexikon steht außerdem, dass die Dramaturgie die Bauform oder die Struktur eines dramatisierten Handlungsspiels darstellt und zugleich ein Plan ist, um ein Schauspiel praktisch zu realisieren. Wer sich für Dramaturgie interessiert, wird früher oder später auf alle Fälle auf eine wichtige Persönlichkeit stoßen: „Aristoteles.“

Wer bitte war Aristoteles?

Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir Aristoteles als Figur in vielen verschiedenen Filmen wiedererkennen würden. Einer, der in allen Situationen einen coolen Spruch auf Lager hatte und stets bemüht war, mit seiner Kritikfähigkeit und scharfem Sachverstand die Lehrer zu nerven. Die Lehrerfigur wäre in diesem Fall dann wohl Platon gewesen. Während Platon nach Vollkommenheit suchte, war Aristoteles der entspannte Typ, der mit Beobachtungen und Erfahrungen arbeitete. Für ihn galten die Dichtung und die Beredsamkeit (damals vielleicht auch einfach nur sämtliche Kommunikationsformen) als Handwerk, das unter der Einhaltung bestimmter Regeln erlernbar war. In diesem Zusammenhang beschreibt uns Aristoteles die Dichtung auch als Nachahmung von Wirklichkeit. Die Mimesis (Nachahmung) soll zwar ein Begriff seines Lehrers Platon gewesen sein, es ist jedoch offensichtlich, dass Aristoteles die Nachahmung von Wirklichkeit als handwerkliches Geschick in seine Schriften übernommen hat.

Nachahmung von Wirklichkeit als Erzählkonzept

Aristoteles beschreibt die Nachahmung von Wirklichkeit als Konzept einer gelungenen Tragödie mit einer in sich geschlossenen Handlung, die einen erkennbaren Anfang, eine Mitte und einen eindeutigen Schluss als Bestandteile aufweist. Nun, das kommt uns doch schon sehr bekannt vor. Ich kenne heute kaum einen Hollywoodblockbuster, der diese Struktur nicht beinhaltet. In diesem Zusammenhang ist für mich auch interessant, dass Aristoteles größeren Wert auf den Mythos, also die Story, als auf die Figuren, die Charaktere, legte. Er begründet diesen Vorzug darin, indem er die Nachahmung von Handlung als Ursache für die Nachahmung der Handelnden erklärt. Klingt eigentlich recht logisch und mir scheint, dass viele Hollywoodproduzenten diese Meinung teilen. Besonders in den schnellen und actiongeladenen Filmen erkennen wir sehr oft, dass die Figuren nur wenig Tiefe besitzen und im Schatten explosiver Handlungen verharren. Trotzdem sind Figuren natürlich wichtiger Bestandteile einer Story.

Die Wiedererkennung (Peripethie)

Wenn wir uns dem Zerstreuungskino Hollywoods ausliefern, (ich gehöre auch dazu), wollen wir vor allem sympathische Figuren erleben. (Helden!) Wir müssen die Typen einfach mögen, um mit ihnen durch die Story zu folgen. Eine Figur, die es nicht verdient ihr Ziel zu erreichen, gilt mit den Worten von Aristoteles auch heute noch als „abscheulich“. Wiedererkennung bedeutet den Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis mit Folgen. Freunde werden zu Feinden, Glück entwickelt sich zum Unglück oder umgekehrt. Auf alle Fälle steht diese Wende immer im Zusammenhang mit den Beteiligten, also mit den Figuren. Dazu listet Aristoteles Regeln auf, von denen ich zwei zitiere und an die sich auch das heutige Kassenschlagerkino sehr oft hält:

  • Man darf nicht zeigen, wie der Held zum Schluss ins Unglück fällt.

Interessant, dass sich zum Beispiel Star Wars mit der Figur Darth Vader nicht an diese Regel hält.

  • Man darf auch nicht zeigen, wie ein Schurke zum Schluss Glück erfährt.

Darüber ärgern wir uns auch heute noch. Wer sieht schon gerne den unsympathischen Antagonisten über den sympathischen Protagonisten triumphieren?

Über Schaudern und Jammern

Ein wichtiger Pfeiler im Grundkonzept von Aristoteles fehlt noch. Wir bezeichnen ihn heute als Spannung. Aristoteles sagt in seiner Poetik, „dass die Nachahmung nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand hat, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen.“

Hier erkennen wir die Konstruktion von Dramaturgie. Spannung tritt dann ein, wenn wir Überraschungen erleben mit denen wir nicht gerechnet haben. Wen wir nicht um das Wohl unserer geliebten Figuren bangen können, werden wir uns langweilen und noch im dunklen Kino den Ausgang suchen. Es muss daher Gegenkräfte in der Story geben, die eine echte Konkurrenz für die Protagonisten darstellen, sich selbst jedoch aufgrund der Dramaturgie begründen. Wir wollen Konflikte erleben, die nicht an den Haaren herbeigezogen erscheinen.

Leider ist uns die Poetik nicht vollständig erhalten geblieben. Was wir mit den Zeilen von Aristoteles in unseren Händen halten lässt sich aber bis heute als Regelwerk für die Produktionsweise unzähliger Filme, wohlgemerkt nicht nur Hollywoodfilme, identifizieren. Deshalb wird auch die Dramaturgie nach Aristoteles ewig leben. Zweifellos handelt es sich bei der Poetik um ein jahrtausende altes Regelwerk, das bis heute als erfolgreichstes Modell angewandter Dramaturgie gilt. Ich werde mich deshalb noch öfter auf sie berufen, ganz im Gegensatz vieler mittlerweile weltberühmter „Drehbuchgurus“. – Ihnen und der Produktionsweise von Hollywoodfilmen widmet sich mein nächster Beitrag.

 

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Aristoteles; Fuhrmann, Manfred (2006): Poetik. Griechisch – deutsch. Stuttgart: Reclam.

BRAUNECK, Manfred; Schneilin, Gérard (2007): Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen,

Bühnen und Ensembles 5. vollständig überarbeitete Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.