Wie ich im letzten Beitrag geschrieben habe, entsprechen gelungene Figuren unseren Vorbildern. Figuren verkörpern Eigenschaften, von denen wir träumen. Das gilt auch für „schlechte“ Figuren, Antagonisten oder ganz einfach Schurken, die den Protagonisten das Leben schwer machen. Wenn ihre Handlungen plausibel sind, glauben wir den Figuren, wir empfinden sie als realistisch. Damit sie aber realistisch wirken, muss die Dramaturgie einer Story die notwendigen Konflikte enthalten. Die Figuren müssen ständig mit Problemen konfrontiert werden, damit sie zu Handlungen gezwungen werden. Robert McKee formuliert das sehr schön in seinem Buch: „Wahrer Charakter kann nur durch die Entscheidung, die die Figur in einem Dilemma trifft, ausgedrückt werden. Wie diese Person unter Druck handelt – das ist diese Person; je größer der Druck, desto wahrhaftiger und tiefer entspricht die Entscheidung dem Charakter.“
Auch wenn diese Aussage in ihrer ursprünglichen Form Aristoteles zuzuschreiben ist, habe ich im Medium Film ein seltsames Phänomen festgestellt. Der Film hat bis dato keine einzige menschliche Figur hervorgebracht, die sich nachhaltig über mehrere Jahrzehnte in das kollektive Gedächtnis eines Weltpublikums einprägen konnte. Ich spreche jetzt nicht von Figuren wie Flipper und anderen animalischen Berühmtheiten, weshalb ich nochmals etwas präziser wiederhole: „Es gibt KEINE menschliche Figur, die der FILM hervorgebracht hat.“ Sollte ich mich in diesem Punkt irren, bitte ich um Aufklärung und Informationen. Ich habe lange über viele bekannte Filmfiguren nachgedacht, die anhand von einfachen Symbolen auch heute noch sofort identifizierbar sein könnten. Die Erkenntnis war immer dieselbe. Alle diese Figuren waren keine Schöpfungen des Films, sondern der Literatur.
Die Literatur als Schöpfer zeitloser Figuren
Es stimmt schon, dass sehr viele Figuren gerade durch das Medium Film ihre Unsterblichkeit erlangt haben, sie stammen aber immer aus der Literatur. James Bond kennen die meisten von uns nur aus den vielen Filmen, die bereits seit Jahrzehnten entstehen. Bond ist aber eine literarische Figur. Auch Sherlock Holmes ist eine Figur die anhand einer Pfeife, eines karierten Mäntelchens und einer Mütze sofort erkennbar wird. Doch auch diese Figur ist eine literarische Figur. Der Film hat sich seit jeher aus der Literatur bedient und besonders erfolgreiche Figuren auf die Leinwand gebracht, selbst jedoch noch keine über einen längeren Zeitraum überlebensfähige Figur geschaffen. Dafür konnte der Film einer Figur diese Zeitlosigkeit einverleiben, egal von welchem Darsteller diese Figur verkörpert wurde.
Vampir ist Dracula
Das beste Beispiel für eine zeitlose Figur ist Dracula. Mein ehemaliger Prof., Dr. Rainer M. Köppl, hat das in seinem Buch, Der Vampir sind wir, eindrucksvoll untermauert. Jedes Kind, das heute zwei spitze Zähne sieht, (Symbol), erkennt nicht nur einen Vampir, sondern den Vampir Dracula. Dracula ist eine von Bram Stoker geschaffene Figur und entstammt der Literatur. Unsterblich wurde diese Figur aber erst durch die nachfolgenden Medien, hier speziell durch die vielen Filme. So konnte sich diese Figur bis heute zu einem unsterblichen Begriff für Vampire entwickeln. Mit anderen Worten: Wen wir von Vampiren sprechen, denken wir als erstes immer an die Figur von Dracula. (Hier meine ich wortwörtlich Figur.) Ein Typ der sexy aussieht und dabei alle wunderschönen Frauen in seinen magischen Bann zieht, der zwischen dem Diesseits und Jenseits wandelt und sich in Tiere verwandeln kann, um nur ein paar bemerkenswerte Eigenschaften zu nennen. Freilich hat auch die Vampirfigur einige Schwächen, die sie verwundbar macht. Diese Schwächen sind uns allen aber mindestens genauso bekannt wie seine Stärken. Wir alle wissen zum Beispiel, dass Dracula keinen Sonnenbrand verträgt. Meiner Meinung nach gibt es keine andere „schlechte“ Figur, keinen anderen Antagonisten, der den Bekannt- und Beliebtheitsgrad dieser Figur toppen könnte. – Aber es handelt sich trotzdem um eine literarische Figur.
Literarische Figuren profilieren, filmische Figuren konstatieren
Die Literatur als älteres Medium kann also durchaus als Schöpfungsmedium betrachtet werden. Aber der Film bedient sich dieser großartigen Schöpfungen und verleiht ihnen erst die Körper. Das ist ein Umstand, der von vielen Literaten und Literaturliebhabern verurteilt wird, wenn diese sich darüber beklagen, dass der Film nicht fähig ist die Tiefe einer Figur dramaturgisch für die Leinwand zu adaptieren. Das ist ein zu ausführliches Thema für diesen Beitrag, aber der Einwand ist natürlich nicht ganz unberechtigt. Trotzdem muss man festhalten, dass eine dramaturgische Figur, eine auf einer Leinwand handelnde Figur, anders funktioniert als eine literarische Figur. Denn Handlungen auf der Leinwand müssen in begrenzter Zeit gezeigt werden und dabei auch noch glaubwürdig bleiben, während literarische Handlungen beschrieben werden und zudem auch noch viel mehr Raum dafür haben.
Die “reine” Filmfigur
Ich habe bis dato keine menschliche Filmfigur entdeckt, die auch eine Schöpfung des Filmes ist und seit mindestens dreißig Jahren einem weltweiten Publikum in Erinnerung blieb. Ich vermute, daran wird sich auch die nächsten Jahre nichts ändern. Hollywood scheint heute mehr denn je auf altbewährtes zurückzugreifen. Figuren mit langer Tradition und Schöpfungen aus der Literatur, die so bekannt wie James Bond sind und bei denen es nahezu egal ist, mit welchem Darsteller sie besetzt werden, stellen eben ein viel kleineres Produktionsrisiko dar. Und eigentlich spielt das für ein Mainstreamkino auch keine Rolle: Figuren sollen uns zum Träumen animieren und somit ihre Funktion im Zerstreuungskino Hollywoods erfüllen.
Verwendete Quellen für diesen Beitrag:
McKee, Robert (2000): Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin: Alexander.
Köppl, Rainer M. (2010): Der Vampir sind wir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight. St. Pölten; Salzburg: Residenz.