Heftiger Regen schlägt plötzlich gegen die Fensterscheibe meines Büros. „Verdammt, die Wäsche ist noch draußen“, schießt ein Gedanke in meinen Kopf und ich eile auf die Terrasse. Zu spät. Und auch ich wurde für die jähe Unterbrechung meiner Arbeit mit einer unfreiwilligen Dusche belohnt. „Da ich schon mal draußen bin, könnte ich mir eine anzünden“, denke ich. Blödes Laster diese Raucherei. Der Regen lässt nach und ich ziehe an meiner Zigarette, als mich der wohlbekannte Geruch des heißnassen Asphalts von der Holzstraße in eine Erinnerung eintauchen lässt.
Schon als Kind liebte ich den Geruch des dampfenden Asphalts von unserer Holzstraße, denn es war der Geruch des Sommers und ist heute meine Erinnerung an eine unbeschwerte Kindheit. Damals, als uns die Eltern bis spät abends kaum in die Häuser brachten, wo wir dann unsere schwarzen Fußsohlen sauber schruppen mussten, bevor wir zu Bett gingen.
Die Menschen grüßten sich noch auf der Straße, sie feierten gemeinsam Feste und traditionell traf man sich an lauwarmen Sommerabenden „im Holz“, um sich über allerhand und unerhörte Neuigkeiten emsig auszutauschen. Und auch unsere türkischen Gastarbeiterfamilien gönnten sich etwas Abkühlung mit einem gemeinsamen Spaziergang in der Holzstraße, womit sie Urlaubsflair in unsere Straße brachten. Ich erinnere mich an ein großes „Holzerfest“. Also kein Fest meiner Familie Holzer, sondern ein großes Fest aller Bewohner von der Holzstraße. Klingt fast schon kitschig-amerikanisch. Aber all das hat es tatsächlich bei uns in der Lustenauer Holzstraße gegeben und ist schon viele Jahre her.
Heute lebe ich nach vielen Jahren wieder als „Holzer in der Holzstraße.“ „Nein ehrlich, das ist kein Witz“, erkläre ich oft den Menschen, die mich ungläubig verwirrt ansehen. Und manchmal erlaube ich mir als scherzhafte Erklärung, dass die Straße nach meiner Familie benannt wurde. Die Holzstraße in Lustenau war früher tatsächlich einmal eine Holzhandelsstraße und die Bewohner wurden auch als vom „Holz her“ bezeichnet. Lustigerweise funktioniert dieses Wortspiel mit meinem Familiennamen deshalb in doppelter Hinsicht. Aber ich schweife in meinen Gedanken ab. Also zurück zu früher und dem Leben in der Lustenauer Holzstraße.
Mir fällt ein, wie wir als Kinder unsere Straße ziemlich gefahrlos passieren konnten, zu unseren Freunden in der Nachbarschaft ohne elterliche Hilfe gelangten und auch wieder von selbst und unbeschadet nach Hause kamen. Zu den bedauerlichen Verkehrsopfern zählten früher lediglich Katzen, manchmal auch Hunde, die noch häufig in der Gegend herumstreunten. Und wir konnten auch ohne Vereinszugehörigkeit jederzeit ins FC-Stadion, um Fußball zu spielen.
Heute sieht man nur noch sehr wenige alte Lustenauer Häuser in der Holzstraße. Man trifft sich nicht mehr so sehr „im Holz“. Der Verkehr hat auch hörbar zugenommen, aber nicht so sehr, um nicht auch noch die Vögel zwitschern zu hören. In diesem Augenblick springt ein Rasenmäher an. „Hat doch kaum aufgehört zu regnen“, denke ich mir. Mit den vielen Wohnanlagen in unserer Straße hat zumindest das krankhafte Rasenmähen nicht an Beliebtheit verloren. Vielleicht leben wir heute zu intensiv nebeneinander und zu wenig miteinander?
„Heute musst du in unserer Straße deine Haustüre zusperren und deine Kinder wegen hundert Meter im Auto fahren, damit sie nicht zu Entführungsopfern werden“, jammerte mir einmal ein Mensch ins Ohr. „Und unser Migrantenanteil war sowieso immer schon viel zu hoch und zu kriminell in Lustenau“, geht die Jammerei dann weiter. „Dafür sind wir doch eh schon bekannt“, lautet darauf meine schmunzelnde Antwort.
Für mich ist die Holzstraße bis heute ein sehr lebensfroher Ort geblieben. Wer sich nach verloren geglaubter Ruhe sehnt, sollte zuerst einige Jahre in einer richtigen Großstadt gelebt haben. Die Menschen vom „Holz her“ grüßen sich auch heute noch, gönnen sich Gespräche und haben zumindest an Gemütlichkeit nichts eingebüßt. Und auch die Kinder und Jugendlichen spielen heute immer noch Fußball im FC-Stadion. Sicher, es ist alles etwas hektischer geworden, manchmal läuft auch abseits des Fußballplatzes einiges unrund. Aber schlussendlich sind wir es auch selbst, die vom „Holz her“, die einen kleinen Ortsteil so unbeschwert lebenswert machen.
Überhaupt sind wir Lustenauer schon von ganz besonderem Schlag. Schmuggler, Rheinzigeuner und was weiß ich noch alles, was man uns immer wieder nachsagt. Immer auch gerne gegen den Rheinstrom schwimmend. Manchmal auch nach außen arrogant und innerlich trotzdem charmant. Ja, man kann viele bösartigen Dinge über uns Lustenauer behaupten oder glauben. Aber an Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn hat es uns sicher nie gefehlt.
Es klingelt an meiner Haustür. „Ah, die Post ist da“, denke ich und werde aus meinen Erinnerungen gerissen. Bevor ich reingehe, sehe ich noch einen farbig leuchtenden Regenbogen, der sich über die Holzstraße gespannt hat. „Schön und schon lange nicht mehr gesehen.“ Und dann drücke ich schnell die Zigarette aus und gehe wieder rein, um weiterzuarbeiten.
Text: Bertram Holzer
Bild: Friedrich Böhringer