Die dramaturgische Kunst gelungener Überraschungen

In diesem Beitrag geht es um das „Gegengewicht“ zu den „erfüllten Prophezeiungen“, von denen ich im vorigen Beitrag erzählt habe. Es handelt sich um die Überraschungen, die Wendungen, die uns dramaturgisch faszinieren, wenn sie sich als glaubwürdige Enthüllungen von Informationen erweisen.

Falsche Spuren konstruieren

Besonders geschickten Autoren gelingt das Überraschungsmoment, indem sie ihr Publikum auf falsche Fährten locken. Wir kennen diese Vorgehensweise aus einigen erfolgreichen Krimiserien. In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise Cold Case, Close To Home und den Langzeitläufer Law And Order nennen. Das dramaturgische Prinzip konstruierter Überraschungen funktioniert bei diesen Erfolgsserien wegen der permanenten Streuung falscher Informationen. Die Ermittler folgen einer Spur nach der anderen um zu entdecken, dass sie sich auf einem falschen Pfad befinden. Sie „kehren um“ und in der Auflösung entpuppt sich ein Täter, mit dem anfangs niemand wirklich gerechnet hat. Dabei müssen die Dramaturgen immer glaubwürdig bleiben und auch glaubwürdige Alibis konstruieren, die sich nachträglich als falsche Spur herausstellen.  Nichts ärgert uns mehr als ein Täter, der aus dem Hut gezaubert wurde und zuvor nicht im Visier der Ermittler aufgetaucht ist. Unser Drang ein Rätsel zu lösen und herauszufinden, wer von den möglichen Verdächtigen nun tatsächlich als Täter in Frage kommt, darf durch unglaubwürdige Enthüllungen von Informationen nicht gestört werden. Freilich kann ein Publikum auch auf diese Dramaturgie konditioniert werden, weshalb die Autoren solcher Formate ständig vor neuen Herausforderungen stehen. (Oder die Serie wird irgendwann einmal eingestellt, weil sich die Muster abgenützt haben.)

Das platzierte Streuen falscher Informationen, um diese als gelungene Überraschungen in der Auflösung zu ernten, gehört wohl ohne Zweifel zu den anspruchsvollsten Aufgaben dramaturgischer Kunst. Aber in den meisten Genres, speziell im Bereich des Kinofilms, scheint das säen falscher Informationen bei einem konditionierten Publikum heute fast schon unmöglich.

The Sixth Sense: Falsche Spur als Kinohit

Wenn wir darüber nachdenken welcher Film uns außerhalb des Genres Krimi durch eine überraschende Auflösung verblüfft hat, so müssen wir wohl zugeben, dass es sich hierbei eindeutig um The Sixth Sense handelt. Ich gebe zu, auch ich habe mich trotz meiner Erfahrung und meines dramaturgischen Wissens, so wie viele Millionen anderer Menschen auch, auf eine falsche Spur führen lassen. Deshalb zählt der Film von M. Night Shyamalan heute zu den weltweit erfolgreichsten Filmen aller Zeiten. Kein Wunder, dass eine ähnlich überraschende Auflösung in vielen nachfolgenden Filmen versucht wurde. Die Schwierigkeiten solcher Versuche dürften auf der Hand liegen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob lediglich Überraschungsmomente in die Dramaturgie eingebaut werden sollen oder ob eine überraschende Auflösung konstruiert werden soll, die alle vorhergehenden Informationen innerhalb einer Story ad absurdum führt. Und das ist auch überhaupt nicht nötig. Überraschungen müssen nicht automatisch auch die ganze Story tragen. Sie erfüllen bereits ihren Zweck, wenn sie unser Staunen über unvorhersehbare Wendungen erzeugen.

Wir lassen uns gerne auf falsche Spuren locken, um später in den Genuss von Überraschungen zu kommen. Im Film The Sixth Sense erlangen der Protagonist und das Publikum am Ende gemeinsam dieselbe traurige Erkenntnis. Ich wiederhole mich an dieser Stelle deshalb gerne nochmals: Das gezielt erfolgreiche ernten der zuvor „falsch“ gesäten Informationen gehört zur höchsten dramaturgischen Kunst.

 

 

Über die dramaturgische Kraft erfüllter Prophezeiungen

„Dramaturgiegurus“ erzählen uns oft wie wichtig es ist, Überraschungsmomente in Storys einzubauen. Überraschungseffekte sind zwar sehr wichtig, sie benötigen aber auch ein „Gegengewicht“, um die Dramaturgie einer Story in Balance zu halten. Deshalb sind „erfüllte Prophezeiungen“ ein probates Mittel, um ihre komische oder tragische Funktionalität zu entfalten.

Sehr beliebt: Komik durch harte Schnitte

Das kennen wir alle. Wir erleben eine Vermutung oder eine Vorahnung eines Protagonisten und im darauffolgenden Schnitt sehen wir wie dieses Ereignis eintritt. Damit wurden schon oft sehr schnelle Lacher in erfolgreichen Komödien erzielt. Auch wenn wir es nicht gerne zugeben, aber es ist vor allem die in uns wohnende Schadenfreude, die uns zum Lachen über die „Schmerzen“ anderer verführt.

In Verrückt nach Mary (Orig.: There´s Something About Mary) erleben wir Ben Stiller in einer misslichen Lage, nachdem sich dessen bestes Stück im Reißverschluss verklemmt hat. Ein Polizist will dem Protagonisten gewaltsam helfen und versichert dem Armen, dass er das Schlimmste bereits überstanden habe. Der Cop beginnt bis drei zu zählen und wir ahnen bereits die schrecklichen Folgen dieses Rettungsversuchs. Noch bevor wir die „Drei“ hören, folgt der harte Schnitt auf die erwarteten Konsequenzen. Die Hauptfigur liegt auf einer Trage und die Sanitäter müssen den Verletzten durch die Menge der vielen Schaulustigen zum Rettungswagen tragen.

Im Film Vorbilder?! (Orig.: Role Models)  hat Paul Rudd in einer Szene sehr schlechte Stimmung, weil er sich gerade vorstellt wie er an einem Campingausflug teilnehmen soll und er bei solchen Ausflügen immer einen Typen erwartet, der nicht Gitarre spielen kann. Im nächsten Schnitt sitzt er tatsächlich im Wald einem Typen gegenüber, der schrecklich an seiner Gitarre herumzupft. 

Die Beispiele ließen sich noch zahlreich fortsetzen, die Funktionalität bleibt aber immer dieselbe. Der Schnitt auf die Erfüllung eines Ereignisses, das im Bild zuvor von einer Figur erwartet wird, erzeugt Komik. Das zeitliche Element spielt hierbei neben unserer innewohnenden Schadenfreude die zentrale Rolle. Das funktioniert bei allen komischen Stoffen. Für alle anderen Genres gelten zeitlich betrachtet etwas andere Regeln.

„Wie ich es hasse, immer Recht zu behalten!“ (Jeff Goldblum in Jurassic Park, als er vor einem T-Rex flüchten muss)

Der komische Effekt kann auch in anderen Genres erzielt werden, wenn die Zeitspanne zwischen Erwartung und Erfüllung eines Ereignisses gedehnt wird. In Jurassic Park beweisen alle drei Wissenschafter ihre ablehnende Haltung gegenüber einem Freizeitpark mit gezüchteten Urzeitmonstern. Vor allem Dr. Malcolm, gespielt von Jeff Goldblum, ist eine zutiefst pessimistisch motivierte Figur. Sie ist diejenige, die bereits zu Beginn des Filmes die schrecklichen Folgen prophezeit. Und tatsächlich gelingt es nur kurze Zeit später einem T-Rex auszubrechen und Jagd auf die Besuchergruppe zu machen. Die Aussage in der Überschrift verleiht der Dramaturgie in dieser Szene zwar eine gewisse Situationskomik, sie hat jedoch nichts mit Bestätigung einer stets negativ denkenden Figur zu tun, sondern lediglich mit deren Enttäuschung darüber, dass sich der angeborene Pessimismus schon wieder bestätigt hat. Deshalb bleibt gerade diese Figur durchwegs sympathisch, manchmal auch witzig und wurde in der ersten Fortsetzung sogar als Hauptfigur eingesetzt.

In anderen Filmgenres und in besonders tragischen Filmen überwiegt sehr oft das frühe Enthüllen von Prophezeiungen. Spannungstreiber ist dann vor allem die Neugier. Wir wollen wissen, wie sich die Dinge dahingehend entwickeln, die uns gleich zu Beginn dargelegt werden.

Im Drama We Need to Talk About Kevin wollen wir beispielsweise erleben, wie sich das gestörte Verhältnis einer Mutter-Kind-Beziehung entwickelt und zur Metamorphose eines Kindes in einen bestialischen Amokläufer geführt hat.

Viele Dramen funktionieren ähnlich indem wir zuerst die Erfüllung von erwarteten Ereignissen erleben und zeitlich erst später die Entwicklung zu diesen Ereignissen sehen. Aber auch dann benötigt die Dramaturgie einen Gegenpol, der aus Überraschungsmomenten besteht. Eine Story, in der sich sämtliche Vermutungen bestätigen, wird sehr schnell langweilig. Spannende Storys benötigen deshalb auch gelungene und vor allem glaubwürdige Überraschungen. Doch dazu im nächsten Beitrag mehr.

 

 

„Ich bin dumm und du weißt nichts“ – Der kommunikative Leergriff für berufliche Neueinsteiger

„Ich beginne dort, wo andere aufhören“, das war ein Leitspruch, den ein Controller selbstbewusst an die Wertewand eines Unternehmens geschrieben hat. Ich wunderte mich bereits damals über die mutige Ansage des Neueinsteigers. Die berufliche Unerfahrenheit hat ihn zum Vorlaut veranlasst und damit gleichzeitig sämtliche Türen zu einer vertrauensaufbauenden Kommunikation verschlossen.

„Vorsicht, ich kenn dich nicht!“

Egal ob Führungskraft oder Mitarbeiter; zu Beginn eines neuen Dienstverhältnisses ist „der Neue“ immer ein Fremdkörper. Einer, den es gerade in den ersten Wochen genau zu beobachten gilt und ich versichere, er wird auch von der restlichen Belegschaft ganz genau beobachtet. In den meisten gut organisierten Unternehmen gibt es vordefinierte Abläufe, um den Neuzugang in sämtlich relevante Unternehmensprozesse einzuführen. Dabei geht es auch darum, den neuen Mitarbeiter zu integrieren. Mit anderen Worten: „Der Neue“ erhält die erste und wichtigste Chance, seine Kollegen kennenzulernen. Wir entscheiden in nur wenigen Augenblicken, ob wir eine Person sympathisch finden. Der Erstkontakt ebnet daher auch den Weg zu Erfolg oder Misserfolg kommunikativer Beziehungen mit alteingesessenen Mitarbeitern.

Deshalb ist es nicht nur unvernünftig, sondern auch ganz besonders dumm anzunehmen, dass die individuelle Genialität über das viel länger bestehende Wissen innerhalb eines Unternehmens triumphieren könnte. Der neue Mitarbeiter darf sicherlich sein selbstbewusstes Naturell zum Ausdruck bringen, er sollte sich aber davor hüten, alle bestehenden Prozesse und Arbeitsweisen seiner Kollegen und Mitarbeiter anzuzweifeln.

Erster Schritt: Zuhören und Interesse zeigen

Gerade erfolgreiche Führungskräfte wissen es am besten. Zuhören schafft Vertrauen. Engagierte Mitarbeiter wollen gehört werden und kommunikativ können Neueinsteiger vor allem durch aufmerksames Zuhören eine wichtige Vertrauensbasis schaffen. Allerdings haben gerade Führungskräfte oder Angestellte in überwachenden Funktionen einen entscheidenden Nachteil. Sie bleiben in erster Linie Fremdkörper, denen man lieber nicht alles erzählt. Die Angst vor Rationalisierung oder höherer Arbeitsbelastung bleibt omnipräsent. Deshalb wird sich der alteingesessene Mitarbeiter dafür hüten, „dem Neuen“ zu viele Details über seine Arbeitsweisen zu erzählen. Er wird sich mitunter sogar dumm stellen und den Informationsaustausch absichtlich verweigern. Deshalb sollte die Kommunikation zwischen dem Mitarbeiter und der neuen Führungskraft durch aufmerksames Zuhören und dem Stellen von Fragen Vertrauen schaffen und kein Aushorchen sein. Der Mitarbeiter wird es schätzen, dass hier jemand vor ihm sitzt, der sich für seine Tätigkeiten und den damit verbundenen Problemen interessiert.

Zweiter Schritt: Informationen austauschen

Wenn ein Mitarbeiter zulässt, dass die neue Führungskraft durch seine Kommunikationsbereitschaft Wissen aufbaut, dann muss diese Bereitschaft auch belohnt werden. Leider vergessen viele Führungskräfte, dass auch Mitarbeiter gerne über Veränderungen der Unternehmensprozesse informiert werden möchten. Erfolgreiche Kommunikation und das Erarbeiten eines intakten Vertrauensverhältnisses basieren immer auf gegenseitigem Informationsaustausch. Je persönlicher dieser Austausch stattfindet, desto höher wird die gegenseitige Wertschätzung sein.

Dritter Schritt: Beratung mit Mitarbeitern als Mittel der Wertschätzung

Der Controller in meinem Beispiel hätte gut daran getan, etwas weniger großspurig aufzutreten und zuerst auf das bestehende Wissen der Mitarbeiter zurückzugreifen. Auch die neue Führungskraft sollte während ihrer Karriere kontinuierlich auf diesem Wissen aufbauen. Es wird sich meistens beweisen, dass der Rückgriff auf bestehendes Wissen nur ein Vorteil für das gesamte Unternehmen sein kann. Der Mitarbeiter erfährt zudem die Wertschätzung für seine Person und seine langjährige Erfahrung. Er spürt das große Vertrauen, das in ihn gesetzt wird und die neue Führungskraft behält trotzdem die kommunikative Kontrolle bei unternehmensrelevanten Entscheidungen.

Leider beobachte ich, dass auch in unserer Unternehmenskultur das aktive Zuhören immer mehr verloren geht. Der persönliche Mittteilungsdrang und die einseitige Kommunikation – die Botschaft ohne Möglichkeit zur Reaktion – haben sich auch in unserem hektisch gewordenen Arbeitsalltag zusehends durchgesetzt. Darüber jedoch in einem anderen Beitrag etwas mehr.