“Abschied nehmen” – Kurzgeschichte

Abschied nehmen

Es ist noch sehr ruhig an jenem frühen Morgen, an dem wir unsere große Runde im alten Rhein schwimmen. Ein paar Enten steuern auf uns zu, glotzen etwas verdutzt, was zwei Menschen schon so früh in ihren Gewässern verloren haben und schwimmen dann doch einen großen Bogen um uns herum. Während ich an diesem himmelblauen Morgen mit langen Zügen schwimme, denke ich über viele Dinge, über Projektideen und Geschichten nach. Heiß wird der heutige Tag wieder. Ungewöhnlich für August und plötzlich erinnere ich mich an den Tag, an dem mein Schulfreund beerdigt wurde.

Fünf Jahre sind jetzt vergangen und es war ein ähnlich heißer Augusttag, an dem wir in der Kirche saßen, um Abschied von ihm zu nehmen. Die Hitze war auch in der Kirche kaum erträglich und ich stellte mir vor, wie er auf uns herabschaute, lachte und uns fragen würde, wieso wir nicht in Shorts und T-Shirts gekommen sind. Ja, so war er eben. Unkompliziert, immer für Witze zu haben und selten zuvor kannte ich jemanden, der nie ein schlechtes Wort über jemand anderen verloren hätte. Und da saßen wir nun, in unseren schwarzen Anzügen und schwitzten, während ich allmählich in Gedanken versinke.

Vor nicht einmal einem Jahr hat er mich angerufen. Er druckste etwas herum und schnell ahnte ich, dass etwas nicht stimmte. Nach einiger Zeit dann die Hiobsbotschaft: „Ich muss dir sagen, dass ich gerade im Krankenhaus liege, weil ich Leukämie habe.“ Noch am selben Abend bin ich zu ihm ins Krankenhaus gefahren. Er wirkte gut gelaunt, sah auch nicht schlecht aus und freute sich über meinen Besuch. Wir gingen spazieren und er erzählte mir ausführlich, wie alles kam. „Alles nicht so schlimm“, meinte er und dass es eine sehr gute Heilchance gibt. Und nachdem er in derselben Zeit wie ich statt einer Zigarette gleich vier Zigaretten rauchte, war ich verleitet, seinen Worten zu glauben. „Kein Problem“, sagte er nur. „Sie haben es mir erlaubt und ich habe ja nicht Lungenkrebs.“

Die nächsten Tage habe ich ihn wieder besucht, bin dazwischen „Geben für Leben“ beigetreten, um mich typisieren zu lassen und habe ihm – auf seinen Wunsch hin – McDonalds Burger ins Krankenhaus mitgebracht. Ich konnte das Zeug kaum essen, aber er hat es verdrückt, als gäbe es kein Morgen mehr. „Ich kann dieses Krankenhausessen schon nicht mehr sehen“, klagte er und mir wurde plötzlich klar, wie lange er schon im Krankenhaus war. Und dann haben wir ihn nicht mehr erreicht. „Es geht ihm heute nicht gut“, sagte die Schwester zu uns und wir konnten ihn nicht mehr besuchen.

Zu Weihnachten dann eine gute Nachricht. Er durfte zuhause bei seiner Familie sein. Im neu gebauten Haus und die zwei Kleinen würden sich wohl genauso wie er auf seine Heimkehr freuen. Fragen über mögliche Spender wich er aber permanent aus. „Es sieht alles ganz gut aus“, versicherte er mir und dann folgte wieder lange Zeit Funkstille. Im April, zu seinem Geburtstag, ein kurzes Lebenszeichen per WhatsApp aus dem Krankenhaus. Und dann endlich durfte er nach Hause. Es war Ende Mai, als wir ihn zuhause besuchten. Lange hatten wir uns nicht mehr gesehen und äußerlich hat die Krankheit deutlich sichtbare Spuren an ihm hinterlassen.

Dafür zeigte er sich immer noch gut gelaunt, so, wie wir ihn immer kannten. Aber seine Augen verbarg er hinter einer Sonnenbrille, denn auch wenn es ein strahlend schöner Tag war, so hätte er unter anderen Umständen nie so eine Sonnenbrille getragen. Wir lachten, alberten herum und amüsierten uns über Geschichten von früher. Alles schien wieder gut zu sein. Er war wieder zuhause bei seiner Familie, hat die schwere Krankheit überwunden. Und als ich ins Auto steige und er uns begleitet, sehe ich ihn nochmals an: „Ich würde dich gerne bald wiedersehen“, verabschiede ich mich bei ihm und er antwortet mit einem Lächeln: „Das machen wir. Wir treffen uns sicher wieder.“ Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe und erst jetzt, während seiner Verabschiedung in der Kirche, begreife ich, dass seine letzten Worte zu mir auch sein Abschied waren.

Die Entenfamilie taucht neben uns wieder schnatternd auf und wir beschließen, ihnen das Gewässer zu überlassen. Und als ich aus dem Wasser steige und mich nochmals mit Blick auf das andere Ufer des alten Rheins umdrehe, wird mir nochmals bewusst, wie wichtig es vor allem in bestimmten Situationen sein kann, sich von Freunden oder geliebten Menschen zu verabschieden.

 

 

Text: Bertram Holzer