“Luschnou ist in Lustenau” – Kurzgeschichte

Bertram Holzer-Luschnou ist in Lustenau

An einem heißen Sommermorgen radelten wir für eine kurze Abkühlung zum alten Rhein. Es ist noch früh und auch nachdem wir das kühlende Nass verlassen, sind nur wenige Leute zu sehen. Wir legen uns unter einen großen Baum und während ich auf unser Naherholungsparadies blicke, wird mir wieder einmal bewusst, wie schön es hier in „Luschnou“ doch eigentlich ist.

Ich bin jetzt seit gut fünf Jahren wieder zurück. Viele Jahre lebte ich anderswo, weg von meiner Heimat, weg von Lustenau. Vieles wird über Lustenau und seine Bürger behauptet. Manches mag stimmen, vieles übertrieben und wohl noch mehr als humorvolle Gerüchteküche ewig bestehen bleiben. Ja, wir Lustenauer sind ein ganz besonderes Völkchen, mit einer sehr eigenwilligen und sogar in unserem Ländle vielerorts nur schwer verstehbaren Sprache. So ist auch heute noch der beliebte „Äuoli-Test“ sprachliches Indiz dafür, ob jemand als waschechter Lustenauer identifiziert werden kann.

Und doch ist das Leben als Luschnouar in Lustenau gerade wegen vieler unserer Eigenarten so lebenswert. Egal, ob wir hier geboren wurden oder nicht. Denn schlussendlich hat das gemeinschaftliche Zusammenleben in der größten Marktgemeinde Österreichs den Charakter einer großen Familie bewahrt. Man kennt sich noch oder lernt sich bei einem gemütlichen „Hock“ schnell kennen. Grüßende Begegnungen während eines Spaziergangs durch die Gemeinde gibt es auch noch. Die Menschen nehmen sich noch Zeit für einen Plausch mit den Nachbarn und überhaupt wird das kulturelle Zusammenleben sehr gerne groß gefeiert.

Wer Festivals mag, kommt in Lustenau genauso auf seine Kosten. Die sportlichen Betätigungsmöglichkeiten sind fast grenzenlos. Gut, Schifahren ist bei uns eher schwierig. Dafür liegen die nächstgelegenen Schigebiete sehr nah. Einkaufen ist noch mit dem Fahrrad möglich und auch als Wirtschaftsstandort hat sich meine Gemeinde prächtig entwickelt.

Freilich hat sich vieles in den Jahren, in denen ich weg war, verändert. Dafür wird sich manches wohl nie ändern. So verirren sich zum Beispiel auch heute noch ortsunkundige Leute in unserer Gemeinde und verstehen nicht, wie man sich in diesem verflixten Straßengewirr auskennen soll. „Alle Wege führen ans Ziel, wenn man weiß, wie Lustenau aussieht und wo man sich gerade befindet“, antworte ich dann und ernte nicht selten verdutzte Blicke. „Ja, in Lustenau ist man verkehrstechnisch dafür nicht eingeschlossen und es gibt immer wieder Wege nach draußen“, ergänze ich dann manchmal etwas hämisch.

So vielfältig das Leben in Lustenau auch sein mag, immer noch sehen viele andere Vorarlberger etwas neidvoll auf uns Luschnouar, natürlich nicht ohne Sarkasmus. Aber da müssen wir durch. Schlussendlich liegt es auch in der Lustenauer Seele, immer wieder Mittel und Wege zu finden, um Probleme oder Konfrontationen zu lösen und mit Stolz auf erbrachte Leistungen zu blicken. Ja, wir sind sicher auch etwas Eigenbrötler, aber mit sehr viel Herz und noch mehr Verstand in einem Ort, der als Lebensmittelpunkt für mich wie ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten wirkt.

„Wo liegt eigentlich dieses Luschnou“, wurde ich einmal von einem Fremden in einem Badeurlaubsort gefragt. „Luschnou ist in Lustenau, da, wo Sie noch das vielseitige Leben in einer Gemeinde genießen können und trotzdem nicht auf die Qualitäten einer Stadt verzichten müssen“, antwortete ich.

Es ist spät geworden, als ich aus meinen Gedanken gerissen werde. Um uns herum sind inzwischen einige Leute zum Baden gekommen. Wir packen unsere Sachen zusammen und wollen zum Schrebergarten meines Vaters radeln, der nur wenige Meter entfernt liegt. Mal sehen, wie sich seine Erdbeeren heuer machen…

 

 

Text: Bertram Holzer

 

“(K)eine Reise mit versteckter Kamera” – Kurzgeschichte

Bertram Holzer: "Keine Reise mit versteckter Kamera"

Manchmal kann eine Eisenbahnreise nach Wien auch ohne Lektüre ganz unterhaltsam sein. Mit dieser Erkenntnis stiegen wir am Wiener Hauptbahnhof aus und auch wenn wir ziemlich hungrig das Abteil verließen, so war zumindest unser Reiseticket jeden Cent wert.

Wir steigen also früh morgens in das Abteil und freuen uns auf Frühstück. Es dauert auch nicht lange, bis er plötzlich vor uns steht. Ein Typ, der aussieht als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Schlank, dunkle Haut und mit Schlafzimmerblick fragt er uns sehr höflich und mit ausländischem Akzent, was wir den gerne hätten. Wir bestellen unsere Frühstückswünsche, er hört uns aufmerksam zu, ohne etwas zu notieren. Und dann sagt er zu mir: „Es tut mir leid, Semmeln sind ausverkauft. Nur Croissant haben wir.“ Na gut. Dann eben nur Kaffee und Croissant und zu meiner Frau – sie wollte ein Biofrühstück – meint er: „Haben wir leider keine Apfel mehr. Ist gut?“ Okay, sie nimmt ihr Frühstück eben ohne Apfel. Dann verschwindet er genauso unauffällig, wie er aufgetaucht ist.

Wir warten, meine Frau beginnt etwas in ihren Zeitschriften zu blättern. „Auch nicht schlecht“, sage ich lachend zu ihr. „Der Zug ist gerade losgefahren und die Semmeln sind schon ausverkauft.“ Die Zeit vergeht, das Abteil hat sich mittlerweile gefüllt und immer noch kein Frühstück. Die Fahrgäste suchen ungeduldig nach der Servicekraft des Bistros. Und dann steht er wieder bei uns. Ich bekomme meinen Kaffee und Gebäck und meine Frau erhält ihr Biofrühstück, das so ziemlich alles enthält, was sie nicht bestellt hat. Dafür fehlt – wie angekündigt – der Apfel. Wir nehmen es schmunzelnd hin und beginnen zu essen.

Im Abteil werden die Fahrgäste um uns herum ungeduldig. Aber unser Freund vom Bistro scheint sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Ich nehme einen Schluck Kaffee und beobachte ihn, wie er eine weitere Bestellung aufnimmt. Ein Mann, gut gekleidet mit aufgeklapptem Notebook, ordert mit bestimmendem Ton sein Frühstück. Offensichtlich ein Geschäftsmann und der junge Mann vom Bistro hört nickend zu. Und dann zum Schluss: „Ich muss Ihnen leider die Mitteilung machen, Frühstück ist ausverkauft.“ Meine Frau verschluckt sich beim Versuch, ihr Lachen zu unterdrücken, denn auch sie hat die Szene aufmerksam beobachtet. Der Geschäftsmann aber findet das nicht so witzig und wird ungehalten: „Wie ausverkauft! Das sagen Sie mir jetzt? Dann müssen Sie mir eine Alternative anbieten.“ Gespannt sehen wir zu, wie der Bistromann Ruhe bewahrt, versucht, ihm das gewünschte Frühstück auszureden. Aber der Geschäftsmann bleibt hartnäckig und ich flüstere zu meiner Frau: „Das könnte heikel enden.“ Schlussendlich verspricht ihm unser Freund vom Bistro doch ein Frühstück und zieht wieder gemütlich schlendernd ab. Auf seinem Weg wird er erneut von einem Fahrgast aufgehalten: „Ich habe jetzt schon vor einer halben Stunde ein Wasser bestellt. Wann kommt das endlich?“ „Ich komme in fünf Minuten zu ihnen.“ Und weg ist er.

Wieder vergeht Zeit und nach einer viertel Stunde taucht der Bistromann endlich wieder auf. Auf seinem Tablet ein Wasser und ein Kaffee, den er dem Geschäftsmann bringt. Der sieht in ungläubig an: „Und wo ist jetzt mein Frühstück?“ Wieder sehen wir gespannt hinüber. „Ich muss Ihnen leider die traurige Mitteilung machen, Croissant ist ausverkauft.“ Wieder müssen wir unser Lachen unterdrücken, aber der Geschäftsmann wird wütend, verlangt irgendein anderes Gebäck und wieder zieht der Bistromann freundlich nickend ab. „Ich bin gespannt, wie das ausgeht“, sage ich zu meiner Frau und dann plötzlich fällt mir ein, dass mich der Bistromann an einen bestimmten Komiker erinnert. Ich blicke mich um und frage mich, ob wir möglicherweise in „Versteckte Kamera“ gelandet sind. Abermals verstreicht einige Zeit und endlich erhält der Geschäftsmann etwas, das nach Frühstück aussieht. Er akzeptiert es sehr unfreundlich, während der Bistromann freundlich lächelnd einem anderen Fahrgast erklärt, dass mittlerweile auch der Kaffee ausverkauft ist. Und wieder kämpfen meine Frau und ich damit, nicht schallend zu lachen. „Wenn das wirklich versteckte Kamera sein sollte, steigen wir wenigstens nicht schlecht aus“, denke ich kurz darauf.

Und so geht das unterhaltsame Schauspiel weiter und wir ergötzen uns an den verdutzten Gesichtern anderer Fahrgäste. Längst haben wir unsere Lektüre weggelegt, um unseren Freund vom Bistro in Aktion zu beobachten. Dann hören wir: „Wir wollten bereits vor einer halben Stunde bezahlen. Sie haben jetzt noch zehn Minuten Zeit, dann steigen wir aus.“ „Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen“, hören wir als Antwort und tatsächlich steht er kurz darauf parat. Nachdenklich beginnt er zu rechnen. „Warum rechnet er? Er muss die Bestellung doch nur eingeben“, fragen wir uns. Vielleicht doch versteckte Kamera? Aber der Betrag scheint zu stimmen, die Leute kontrollieren jedenfalls nicht den Beleg, den sie erhalten.

Unsere Reise nähert sich dem Ende und ein weiterer Fahrgast beschwert sich: „Entschuldigen Sie, ich habe jetzt vor einer halben Stunde eine Leberkässemmel bestellt.“ Der Bistromann sieht ihn bedauernd an und antwortet: „Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie. Leberkässemmel geht sich leider nicht mehr aus vor Endstation.“ „Aber wir sind ja nicht mal in St. Pölten.“ Er nickt besänftigend mit seinem schlaftrunkenen Blick und meint: „Ja, das tut mir wirklich sehr leid für Sie.“ Und dann zieht er wieder ab. Mittlerweile hat er sich meinen größten Respekt verdient, denn ich bin mir sicher, dass wir uns nicht in „der versteckten Kamera“ befinden. Das Bistro ist einfach nur mit einem fast leeren Speisewagen losgefahren und dieser raffinierte Kerl hat es mit seiner überspitzt höflichen Art geschafft, auch die unangenehmsten Fahrgäste zu besänftigen, indem er ihnen irgendetwas Auffindbares zum Essen oder Trinken serviert.

Und auch wir schaffen es schlussendlich doch, unsere Rechnung bei ihm zu bezahlen. Wieder grübelt er, als würde er angestrengt rechnen, tippt dann die Bestellung ein und gibt uns einen Beleg. Ich gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld, er konnte uns kulinarisch und als Servicekraft zwar nicht wirklich verzücken, dafür hat er uns während der Reise als Entertainer umso besser unterhalten. Er verschwindet und wir haben ihn das letzte Mal gesehen. Dann blicke ich gespannt auf den Beleg. Er hat uns trotz meines Trinkgeldes zu wenig verrechnet.

 

Text: Bertram Holzer

 

„Erinnerung“ – Kurzgeschichte

Erinnerung - Kurzgeschichte - Bertram Holzer

Es sind bereits viele Jahre vergangen, als ich in Wien lebte und arbeitete. Aber noch heute fällt mir ein schaudererregendes Erlebnis in der U-Bahn ein.

 

An jenem Tag habe ich abends etwas früher Schluss gemacht und ich wurde in meiner Hoffnung nicht enttäuscht, mich diesmal nicht in eine überfüllte U-Bahn quetschen zu müssen. Im Gegenteil und obwohl mir etwas Stehen ganz gutgetan hätte, setzte ich mich auf einen der freien Plätze. Ich sah mich um, meine Aktentasche auf dem Schoss. Nur wenige Leute im Abteil und trotzdem dieser penetrant muffige Gestank menschlicher Ausdünstung und zwiebelhaltigem Fastfood, das hier soeben jemand gegessen hatte.

Ich sehe eine dicke Frau mit ihrem kleinen Sohn vor mir. Sie ist offensichtlich überfordert, den quirligen Jungen in Zaum zu halten. Ein junger Mann mit Hoodie sitzt mir gegenüber und reißt an der Leine seines Hundes, der am Boden liegt. Weiter vorne sitzt ein etwas älterer Mann, der mich freundlich angrinst. Ich lächle etwas verunsichert zurück, bin mir nicht sicher, ob seine Geste tatsächlich mir gilt. Der Mann erinnert mich an jemanden, aber ich weiß nicht an wen. „Passiert mir öfter“, denke ich kurz. Man kann sich an einem fernen Ort befinden und sieht plötzlich jede Menge Doppelgänger von Menschen, die man von zuhause kennt.

Dann entdecke ich vier Menschen, die im Abteil beieinandersitzen und sich amüsiert unterhalten. Ich staune nicht schlecht, als ich einen von ihnen tatsächlich zu kennen glaube. Ich sehe nochmals genauer hin und täusche mich nicht. Andreas Vitasek sitzt bei ihnen und unterhält sich entspannt mit den Fahrgästen. „Sympathischer Typ“ denke ich, als er sich freundlich von ihnen verabschiedet, um in der nächsten Station auszusteigen. Der Zug hält und nur wenige Menschen steigen zu.

Die Fahrt geht weiter, der Hund, der gegenüber von mir am Boden liegt, bleibt ruhig liegen und sein junger Besitzer hat endlich damit aufgehört, an der Hundeleine zu reißen. Die dicke Frau schnorrt immer noch mit ihrem überaktiven Kind, das mich im Gegensatz zu der Mutter überhaupt nicht mehr nervt. Mein Blick trifft wieder den freundlich grinsenden Blick des älteren Mannes. „Verdammt nochmal. An wen erinnert mich dieser Mensch bloß. Kenne ich ihn womöglich doch? Einen Prominenten erkennt man doch auch sofort.“

Der junge Mann mit Hoodie reißt plötzlich wieder an der Leine und schreckt damit das schlafende Tier auf. „Blöder Hund“ denke ich und meine damit diesen Typen, der die Kapuze noch tiefer über seine Stirn zieht, um ebenfalls ein Nickerchen zu machen. Auch die dicke Frau reißt ihr Kind zum wiederholten Mal an sich und ermahnt es, endlich still zu sitzen. Der ältere Mann lächelt wieder zu mir rüber, nickt mir abermals freundlich zu. Ich überlege aufzustehen, um zu ihm rüberzugehen und ihn zu fragen, ob wir uns kennen.

Im selben Augenblick stört das schrille Läuten meines Handys die Ruhe im Abteil. Schnell ziehe ich es aus meiner Tasche, stelle es lautlos und sehe die Nummer eines Freundes auf dem Display. Ich wundere mich, denn sein Anruf um diese Zeit hat schon früher schlechte Nachrichten bedeutet. Erwartungsvoll nehme ich den Anruf an. Der Zug fährt mittlerweile in das Tageslicht der nächsten Haltestation ein und am anderen Ende der Leitung höre ich die traurig schluchzende Stimme meines Freundes.  – Sein Vater ist tödlich verunglückt.

Erschrocken stammle ich herum, blicke verstört aus dem Fenster. Mir fehlen die richtigen Worte aber ich versuche ihn dennoch zu trösten, als der Zug erneut Fahrt aufnimmt. Die Verbindung wird nicht mehr lange anhalten und ich vergesse mein Umfeld, während der Zug wieder in die unterirdische Dunkelheit der nächsten Tunnelröhre schießt. Flackerndes Licht und Dunkelheit im Abteil wechseln einander ab. Dann bricht die Verbindung ab.

Gedanken rasen durch meinen Kopf: „Sein Vater, so ein netter Mann und jetzt ist er tot?“ Plötzlich bemerke ich, dass der freundlich blickende Mann nicht mehr im Abteil sitzt. „Wann ist er verschwunden?“ Und dann lässt mich eine Erinnerung an den Vater meines Freundes erschaudern, denn im selben Augenblick fällt mir ein, weshalb mir der freundliche Fremde so bekannt vorkam?

 

 

Text: Bertram Holzer